Reformpädagogik:
Begriffsbestimmung, Geschichte und Personen
1. Allgemeine Begriffsbestimmung (Scheibe, Röhrs, Oelkers)
In seinem grundlegenden Werk "Die reformpädagogische Bewegung
1900-1932" [1] gibt
Wolfgang Scheibe einen Gesamtüberblick über
die reformpädagogischen Richtungen und Tätigkeitsfelder des ersten
Drittels des 20. Jahrhunderts. Neben den Bemühungen der deutschen
Schulreformer thematisiert er in zwei Kapiteln auch Reformversuche im
Bereich der Sozialpädagogik und der Erwachsenenbildung sowie Konzepte
internationaler Pädagogen und Pädagoginnen (u. a. John Dewey, Maria
Montessori, Anton Semjonowitsch Makarenko).
Als Eckdaten der
"reformpädagogischen Bewegung" gibt Scheibe die Jahre 1900 und 1932/33
an [2], dabei ist der Begriff der Bewegung für die Charakterisierung
der pädagogischen Tätigkeit in diesem Zeitraum von besonderer
Bedeutung. In Anlehnung an den von
Berthold Otto
[3] aufgegriffenen
und von
John Dewey und
Herman Nohl [4] weiterentwickelten Begriff, fasst Scheibe
die reformpädagogische Bewegung als eine "Vielzahl von pädagogischen
Richtungen" (genannt werden von ihm u. a. die "Arbeitsschulbewegung"
und die "Kunsterziehungsbewegung") innerhalb einer Gesamtbewegung auf
[5]. Gemeinsames Ziel dieser in den pädagogischen Ansätzen teilweise
sehr unterschiedlichen Bewegung sei die Umgestaltung des Erziehungs-
und Bildungswesens auch "über den Bereich der Schule hinaus"
[6]
gewesen.
Hermann Röhrs charakterisiert die Reformpädagogik,
die er in drei Phasen einteilt [7], als "eine der reichsten
pädagogischen Epochen" [8]. Im Gegensatz zu anderen pädagogischen
Epochen sei es der Reformpädagogik zum ersten Mal gelungen, über den
Gegenstandsbereich Schule hinaus "die Erziehungswirklichkeit
insgesamt" [9] zu erschließen und wirksam zu gestalten.
In
Anlehnung an Nohls Begriff der "pädagogischen Bewegung" und orientiert
an Scheibes Erläuterung des Begriffs Bewegung als eine "Dynamik
gleicher Gesinnungen, Überzeugungen und Willensrichtungen auf Grund
bestimmter geistiger Entscheidungen" [10] sieht Röhrs in der
Reformpädagogik eine "in sich geschlossene Bewegung, deren umfassendes
Ziel die Lebensreform darstellt." [11] Zudem weist er ausdrücklich
darauf hin, dass diese neue Bewegung eine internationale Bewegung
gewesen und dass diese "Verflechtung" [12] häufig übersehen worden
sei. Als Grund für den "weltweiten pädagogischen Umbruch" gibt Röhrs
die Kritik an der "traditionellen Schule abendländischer Prägung" an.
Diese Schulkritik beruhe seiner Meinung nach auf der damaligen
Erfahrung, dass sich die Schulen durch den Primat der
Wissensvermittlung als "Lernschulen" disqualifiziert hätten.
Demgegenüber fassten die reformpädagogischen Konzepte schulische
Tätigkeit im Sinne Pestalozzis vielmehr als "Menschenbildung"
[13]
auf, d. h. dass nicht mehr die Vermittlung "eines bestimmten
Bildungsgehalts" im Vordergrund stand, sondern vielmehr ein
Lernprozess, der den Menschen zu einem "lernenden und denkenden Wesen
machen" [14] sollte.
Im Gegensatz zu Scheibe und Röhrs
kritisiert
Jürgen Oelkers in der Einleitung zu seinem Buch
"Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte" [15] die in der
modernen erziehungswissenschaftlichen Geschichtsschreibung und
Forschung vorgenommene Kategorisierung und Einengung der
Reformpädagogik als eine historische Epoche der Jahre von 1890 bis
1933 [16]. Für seine Kritik führt er dreierlei Gründe an:
Zum
Ersten hält er den in der Geschichtsschreibung häufig verwendeten
Begriff "Epoche" für problematisch, da Epochenbezeichnungen bzw.
-eingrenzungen stets das Ergebnis einer bestimmten,
intentionengeleiteten Geschichtsschreibung seien und es "taxonomisch
(eingrenzend) und terminologisch (begrifflich) immer auch andere
plausible Möglichkeiten der historischen Interpretation"
[17] gebe.
Zudem problematisiert er die Schwierigkeit einer Einordnung der als
fortschrittlich gekennzeichneten reformpädagogischen Epoche zwischen
anderen pädagogischen Epochen, die demgegenüber wohl als
rückschrittlich oder stagnierend charakterisiert werden müssten
[18].
Die Beschränkung des Begriffs Reformpädagogik auf die Zeit
zwischen 1890 und 1933 kann Oelkers insgesamt nicht nachvollziehen und
erläutert dies an späterer Stelle mit den Sätzen: "Pädagogik ist immer
Reformpädagogik gewesen: […] Es gibt nie eine Zufriedenheit mit dem
Status Quo und es sind daher immer Reformabsichten vertreten worden,
die sich in typischen Motiven ausdrücken." [19]
Zweitens ist
Oelkers der Auffassung, dass die zwischen 1890 und 1933 angewandte
pädagogische Praxis nicht aus einer neuen Theorie heraus entstanden,
sondern vielmehr die praktische Umsetzung älterer theoretischer
Überlegungen sei und daher als "Teil einer langen Kontinuität"
[20]
reformerischer Bemühungen des gesamten 19. Jahrhunderts gesehen werden
müsse.
Schließlich scheint ihm eine umfassende
sozialhistorische Darstellung oder auch eine kritische
Rezeptionsgeschichte der Reformpädagogik nicht möglich, da sie "ein
nationales/internationales Phänomen, theoretisch uneinheitlich, sehr
heterogene Strömungen berücksichtigend, politisch sich höchst
verschieden artikulierend und nicht einmal in pädagogischer Hinsicht
eine konstante Größe" [21] sei. Oelkers versucht demnach in seiner
Arbeit auch keine Gesamtdarstellung bekannter ReformpädagogInnen und
deren Schulen zu geben, sondern konzentriert sich auf die Darstellung
typischer, pädagogischer Ideen (Stichworte: history of ideas,
Ideengeschichte) und deren Kontinuität.
[1] | Scheibe, Wolfgang: Die reformpädagogische Bewegung 1900-1932. Eine einführende Darstellung, Weinheim/Basel 1999. |
[2] | a. a. O, S. 3; Erscheinung des Buches "Das Jahrhundert des Kindes" von Ellen Key / sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten. |
[3] | Otto, Berthold: Die Reformation der Schule, Leipzig 1912. |
[4] | Nohl, Herman: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt/Main 19352, 200211. |
[5] | Scheibe 1999, S. 2. |
[6] | ebd. |
[7] | Röhrs, Hermann: Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt, Weinheim 19985, S. 23; Die Jahre von 1890 bis ca. 1912 beschreibt er als „erste Phase […] der Kritik der alten Schule“, ca. 1912 – 1924 als Phase in der „einzelne Reformversuche aus ihrer Isolierung heraustreten und in der Diskussion das Gemeinsame in ihrer pädagogischen Grundeinstellung entdecken“ und 1924 – 1933 als Phase der theoretischen Klärung und Aufbereitung des „Ertrags“ für die „pädagogische Breitenarbeit“. |
[8] | a. a. O., S. 20. |
[9] | ebd. |
[10] | Scheibe 1999, S. 1. |
[11] | Röhrs 19985, S. 20 |
[12] | a. a. O. S. 21. |
[13] | ebd. |
[14] | a. a. O. S. 53. |
[15] | Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim, München 1989. |
[16] | Eröffnungsrede Kaiser Wilhelms II. vor der Schulkonferenz von 1890 und Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933. |
[17] | Oelkers 1989, S. 9, Anm. in ( ) Hager. |
[18] | a. a. O. S. 10. |
[19] | a. a. O. S. 35. |
[20] | a. a. O. S. 9. |
[21] | a. a. O. S. 7. |